„Opfer im Interesse der Volksgesundheit“: Eppelheimer Zwangssterilisierte

Zwischen 1933 und 1945 wurden in Deutschland ungefähr 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Die Rechtsgrundlage hierfür bot das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933. Der Gesetzestext selbst gab keine Auskünfte darüber, welche Zwecke mit den Zwangssterilisationen verfolgt wurden, aber in der amtlichen Begründung wurde mitgeteilt, dass die „Unfruchtbarmachung eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers und die Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen bewirken“ solle. Man bezog sich hier auf Theorien der sogenannten Eugenik, die Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommen waren und davon ausgingen, dass sich der Gen-Pool einer Population aufwerten ließe, indem man einerseits positiv bewertete Erbanlagen vergrößerte und andererseits negativ bewertete Erbanlagen verringerte.

Die negativen Erbanlagen fasste das Erbgesundheitsgesetz von 1933 in neun Kategorien, die nur teilweise klaren medizinischen Indikationen entsprachen – wie etwa Epilepsie, Huntington Chorea sowie erbliche Blind- oder Taubheit. Andere Kategorien wie Schizophrenie oder das „zirkuläre Irresein“ ließen zumindest erhebliche Interpretationsmöglichkeiten, und wenigstens zwei Begriffe waren eher soziale als medizinische Indikationen: der „angeborene Schwachsinn“ und der „schwere Alkoholismus“. Man schätzt, dass reichsweit etwa die Hälfte der Betroffenen wegen „angeborenen Schwachsinns“ sterilisiert wurde. Dies trifft auch auf die Gruppe der zwangssterilisierten Eppelheimerinnen und Eppelheimer zu. Von ihnen konnten bislang drei Dutzend Personen identifiziert werden. Die Quote der Zwangssterilisierten dürfte damit in Eppelheim deutlich höher gewesen sein als im Reichsdurchschnitt. Unter den 36 Zwangssterilisierten finden sich etwa gleich viele Männer (19) und Frauen (17): Der jüngste männliche Zwangssterilisierte war zehn Jahre alt, der älteste 52; bei den weiblichen Zwangssterilisierten waren es 15 und 41 Jahre.

Offizielle Anerkennung als NS-Opfer haben die Zwangssterilisierten sehr spät – und damit die allermeisten erst nach ihrem Tod – gefunden. In der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik galt das Erbgesundheitsgesetz lange Zeit nicht als nationalsozialistisches Unrecht, sondern als eine gesundheitspolitische Maßnahme, wie sie schon zuvor und auch danach in anderen Ländern gang und gäbe gewesen sei. Diese These hatte zum Beispiel eine 1961 vom Bundestag eingesetzte Expertenkommission aufgestellt, der mehrere Mediziner angehörten, die in der NS-Zeit praktiziert hatten und sich selbst entlasten wollten. Was von ihnen verschwiegen und auch in den folgenden Jahrzehnten nicht breit zur Kenntnis genommen wurde, waren die im internationalen Vergleich sehr hohen Zahlen von Zwangssterilisationen im nationalsozialistischen Deutschland und auch, dass das Verfahren, das vom Erbgesundheitsgesetz festgelegt worden war, rechtsstaatlichen Standards nicht entsprach. Dies lässt sich auch anhand von Eppelheimer Fällen aufzeigen.

Für die Durchführung des Gesetzes war folgendes Verfahren vorgesehen: Personen, die auf Erbkrankheiten zu überprüfen waren, sollten den Bezirksärzten gemeldet werden. Diese hatten eine medizinische Begutachtung zu veranlassen, die an den Krankenhäusern von hierzu qualifizierten Ärzten vorzunehmen war – die Gutachten über die Eppelheimer Opfer wurden in der Regel in der Heidelberger Universitätspsychiatrie erstellt. Wenn die Gutachten vorlagen, hatten die neu geschaffenen Erbgesundheitsgerichte über die Anordnung einer Sterilisation zu entscheiden. Für die Eppelheimer Opfer war das am Amtsgericht Heidelberg eingerichtete Erbgesundheitsgericht zuständig. Gegen eine Entscheidung des Erbgesundheitsgerichts besaßen die Betroffenen – zumindest auf dem Papier – die Möglichkeit des Widerspruchs. Über diesen entschied ein Erbgesundheitsobergericht; das für Baden zuständige war beim Oberlandesgericht Karlsruhe eingerichtet. Dies mag wie ein rechtsstaatliches Verfahren aussehen, das es in der Praxis allerdings nicht gab. Die Fallakten des Erbgesundheitsobergerichts umfassen zumeist nur ein oder zwei Blatt Papier: Formulare, auf denen nur der Name eingetragen, die Diagnose angekreuzt und die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt werden musste. Spätestens mit dem Beschluss des Erbgesundheitsobergerichts war der Weg für die Betroffenen unausweichlich: Sie mussten sich ins zuständige Krankenhaus begeben oder wurden im Weigerungsfall mit Polizeigewalt dorthin gebracht.

Werbebild des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP (Volk und Rasse Jg. 1936)
Bildtafel für den Schulunterricht (Alfred Vogel, Erblehre und Rassenkunde, Stuttgart 1938)

Wie die Eppelheimer Opfer in das Räderwerk der Zwangssterilisationen gelangten, ist nicht in jedem Fall nachzuvollziehen. Dass der einzige Hausarzt am Orte und der Bürgermeister daran mitwirkten, ist aber an einem Schreiben zu erkennen, das von dem Eppelheimer Arzt Wilhelm Klinkhardt stammt, der am 10. Februar 1934 dem Bürgermeister die Namen von zehn Personen mitteilte, die seiner Auffassung nach unter dieses Gesetz fielen. In anderer Schrift – vermutlich der des Bürgermeisters Paul Hübner – sind vier weitere Namen hinzugefügt. Die frühesten Zwangssterilisationen sind für das Jahr 1934 belegt, die späteste für 1943. Die meisten Fälle gab es in den Jahren 1936 und 1937. Nicht in allen Fällen sind die Diagnosen, mit denen die Zwangssterilisationen begründet wurden, überliefert. Eine klare physische Diagnose scheint nur in einem Fall vorgelegen zu haben: nämlich ein vererbbares Augenleiden. Die psychische Diagnose Schizophrenie taucht viermal auf, und in den übrigen Fällen werden „angeborener Schwachsinn“ und „schwerer Alkoholismus“ als Sterilisationsgründe genannt.

Was sich hinter diesen Zuschreibungen verbirgt, sei anhand dreier Beispiele illustriert. Eines bietet der Arbeiter Jakob L., der im Frühjahr 1935 auf der Grundlage der Diagnose „schwerer Alkoholismus“ sterilisiert wurde. L. war zu diesem Zeitpunkt 52 Jahre alt, verwitwet und lebte allein, nachdem ihm 1933 das Sorgerecht für seine vier minderjährigen Töchter entzogen worden war. Sein Strafregisterauszug umfasste keine aktuellen Delikte, aber zehn Einträge aus den Jahren 1901 bis 1922, zumeist kleinere Geld- und kürzere Haftstrafen wegen Diebstahl, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Die Diagnose „schwerer Alkoholismus“ stützte sich auf die Aussagen seines Stiefsohnes sowie auf ein Gutachten eines Bezirksarztes, den L. allerdings, wie er vor Gericht angab, nach einem Fest am Vorabend verkatert aufgesucht hatte. Dass er günstige Arbeitszeugnisse aufweisen konnte und am Arbeitsplatz nicht durch übermäßigen Alkoholkonsum aufgefallen war, hielt das Erbgesundheitsgericht nicht für relevant und ordnete im „Interesse der Volksgesundheit“ seine Sterilisation an, die im Bethanien-Krankenhaus in Heidelberg vorgenommen wurde.

Noch weitaus größere Ermessens- und damit Missbrauchsspielräume bot die Diagnose „angeborener Schwachsinn“, die durch medizinische Begutachtung und die Auswertung von Intelligenzprüfungsbögen erhoben wurde. Eine erhebliche Rolle spielten bei den Entscheidungen auch die von den Gesundheitsämtern eingezogenen Informationen über die Lebens-, Arbeits- und Familienverhältnisse der Betroffenen. Diese erfolgten in sogenannten erbbiologischen Feststellungen, die von den Gemeindeverwaltungen getroffen wurden. In einer solchen Feststellung schrieb Bürgermeister Hübner etwa im Oktober 1935 über ein Eppelheimer Ehepaar: „W. hat einen besonderen Hang zur Fürsorge. Er arbeitet sehr ungern. Seine Ehefrau versteht sehr wenig vom Haushalt. Die Hauswirtschaftsführung ist sehr unwirtschaftlich und minder. Besondere Mühe zur Besserung der Verhältnisse unternehmen sowohl W. als auch seine Ehefrau nicht. Die Familie ist asozial. Das allgemeine Verhalten der Eheleute W. läßt das Vorhandensein von angeborenem Schwachsinn vermuten. Herr Dr. Klinkhardt, mit dem ich als Fürsorgearzt bezgl. dieser Familie Rücksprache genommen habe, teilt diese Ansicht ebenfalls. Die Eheleute W. haben 4 kleine Kinder“. Mit solchen Stellungnahmen lieferte der Bürgermeister vermeintlich Erbkranke buchstäblich ans Messer.

Um so etwas zu tun, musste man kein eingefleischter Nationalsozialist sein wie Paul Hübner. Ganz ähnlich nämlich verhielt sich der Ortsbauernführer Jakob Stephan, politischer Opportunist und NSDAP-Mitglied seit 1937, der nach Hübners Tod im Frühjahr 1941 dauerhaft die Bürgermeisterstellvertretung übernahm. Er schrieb im August 1941 in einem Gutachten für das Gesundheitsamt Heidelberg über die 15-jährige Frieda W., dass sie „schon auf den Laien den Eindruck einer Schwachsinnigen“ mache. „Nach meinem Dafürhalten ist sie zur selbständigen Lebensführung aus eigener Kraft und selbständigen Zurechtfinden gegenüber neuen und wechselnden Aufgaben nicht befähigt. Sie kann unter den jetzigen Umständen nicht als vollwertiges Glied der Volksgemeinschaft betrachtet werden“.

Die Frage, wie viele Eppelheimerinnen und Eppelheimer damals wussten, dass drei Dutzend ihrer Nachbarn zwangssterilisiert wurden, lässt sich nicht beantworten. In aller Heimlichkeit war das jedenfalls nicht geschehen. Wenigstens eines der Eppelheimer Opfer setzte sich mit physischen Mitteln zur Wehr und musste mit Polizeigewalt ins Krankenhaus zur Sterilisation gebracht werden. Auch in einem anderen Fall ist anzunehmen, dass die Vorgänge in die Gemeindeöffentlichkeit gedrungen sind: Hans Sch. nämlich versuchte 1938, seine Sterilisation wegen einer Schizophreniediagnose dadurch abzuwenden, dass er das ihm drohende Unrecht öffentlich machte: mit einem Brief an Adolf Hitler persönlich, mit einem Protestschreiben an das Oberlandesgericht Karlsruhe und vermutlich auch mit mündlichen Berichten an alle Eppelheimer und Eppelheimerinnen, die ihm zuzuhören bereit waren. Ein Betroffener sah, und dies dürfte im Ort einiges Aufsehen verursacht haben, den einzigen Ausweg im Selbstmord: „Eine Vorladung des Gesundheitsamtes zwecks Sterilisation brachte den etwas beschränkten sonst sehr arbeitssamen Bauhilfsarbeiter August Sch. in so grosse seelische Erregung, daß er sich unmittelbar darauf zu Hause […] erhängte“, hielt der katholische Kurat Anton Koch am 10. Januar 1938 in der Pfarrchronik fest und fügte, die Schuldfrage vielleicht etwas einseitig betrachtend, hinzu: „Wäre der Unglückliche vielleicht im religiösen Leben eifriger gewesen und hätte er Zuflucht genommen zu den Gnadenmitteln der hl. Kirche, so hätte er seine Tat nicht begangen“.

(Frank Engehausen)