„In keiner umliegenden Gemeinde ist die Not so groß wie in der unsrigen“: Wohlfahrtsunterstützung, Weihnachtsbeihilfen und Notgemeinschaftsprogramme in Eppelheim 1930-1932

Unterstützungsantrag eines arbeitslosen Familienvaters vom Oktober 1930 (Stadtarchiv Eppelheim).

Mit dem New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 begann eine weltweite Wirtschaftskrise, die sich in einem starken Rückgang des internationalen Handels und der industriellen Produktion bemerkbar machte. Das deutlichste Anzeichen der Krise war ein rascher Anstieg der Arbeitslosenzahlen, der in Eppelheim wegen des hohen Anteils lohnabhängig beschäftigter Arbeiter zu massiven Problemen führte. Das soziale Sicherungsnetz war nicht sehr stabil und überdies grobmaschig: Ein Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung bestand für ein Dreivierteljahr, und anschließend konnten Arbeitslose für weitere 19 Wochen „Krisenunterstützung“ beziehen; allerdings waren hiervon Saisonkräfte, von denen es unter den Eppelheimer Bauhandwerkern viele gab, ausgeschlossen. Wer keine Arbeitslosen- beziehungsweise Krisenunterstützung mehr bezog (im zeitgenössischen Sprachgebrauch „ausgesteuert“ war), wurde zum Fürsorgefall und fiel damit den kommunalen Finanzen zur Last.
Die Krise spitzte sich in Eppelheim so rasch zu, dass der sozialdemokratische Bürgermeister Andreas Jäger bereits im Mai 1930 in einem Schreiben an das Landesarbeitsamt Alarm schlug: Die Gemeinde zählte zu diesem Zeitpunkt 350 Arbeitslose, die noch Unterstützung bezogen. Daneben gab es aber „80 aus der Versicherung ausgesteuerte Erwerbslose, die nicht einmal mehr das allernotdürftigste Einkommen hatten. Ein Eingreifen der Gemeinde als Ortsfürsorgebehörde fällt nötig. In der ganzen Gemeinde und bei dieser selbst herrscht eine sehr große Armut, und es ist der Gemeinde angesichts ihrer ungünstigen Finanzlage unmöglich, die Unterstützungen für die arbeitslosen und aus der Versicherung ausgesteuerten Arbeiter und deren Familien fernerhin zu gewähren“.
Dass Jägers Klage nur zu begründet war, zeigt sich beim Blick in die Gemeindeakten, in denen Dutzende von Anträgen arbeitsloser Eppelheimer überliefert sind, die die soziale Not vor Ort und auch die engen Handlungsspielräume der Gemeinde dokumentieren. Anfang Juni 1930 etwa wurde im Rathaus ein arbeitsloser Hilfsarbeiter vorstellig, der im Vormonat ausgesteuert worden war. Seine ebenfalls arbeitslose Frau bezog zwar noch Krisenunterstützung, die allerdings nicht ausreichte, um die Familie mit vier Kindern im Alter von ein bis sechs Jahren zu ernähren. Der Bittsteller hielt sich selbst mit Aushilfsarbeiten bei einem Landwirt gegen Essen und „ein kleines Trinkgeld“ über Wasser, betonte aber, dass er so den Unterhalt der Familie nicht bestreiten könne. Zur Zahlung einer Unterstützung sah sich der Gemeinderat nicht in der Lage, da der Bittsteller selbst versorgt sei und seine Ehefrau noch Leistungen beziehe. Bei den Kindern dagegen sei Hilfsbedürftigkeit gegeben, weshalb man beim Bezirksfürsorgeverband „um Aushändigung eines Milchgutscheines und um Abgabe von Kleidungsstücke[n] und Schuhe[n]“ bat.
Kaum besser ging es einem arbeitslosen Maurer, der ebenfalls ausgesteuert war und eine zehnköpfige Familie unterhalten musste: Von seinen vier Kindern im erwerbsfähigen Alter waren ein Sohn und eine Tochter ebenfalls arbeitslos, eine Tochter lag im Krankenhaus, und ein Sohn hatte als Lehrling ein Wocheneinkommen von zwei Reichsmark. Auch junge Familien gerieten in Not, wie ein 20-jähriger Former im August 1930 im Rathaus zu Protokoll gab: „Ich bin seit 20. Juni 1930 aus dem Bezug der Arbeitslosenunterstützung ausgesteuert und habe kein Einkommen. Ich habe Anspruch auf Krisenunterstützung, die ich aber erst nach Vollendung meines 21. Lebensjahres erhalte. Dies ist am 1. November ds. Js. Ich bin verheiratet und habe 2 Kinder im Alter von 1 und 2 Jahren. Meine Frau und 1 Kind befinden sich bei meinen Schwiegereltern in Seckenheim. Das andere Kind befindet sich bei meiner Mutter. Da es mir nicht möglich ist, ohne jegliches Einkommen mich und mein Kind zu ernähren, bitte ich verehrl. Gemeinderat mir eine wöchentliche Unterstützung gewähren zu wollen“.

Groß waren die Handlungsmöglichkeiten des Gemeinderats in diesen und in ähnlichen Fällen nicht. Einblick in die Vergabepraxis geben zwei Listen vom Januar 1931: Für elf Familien wurden aus der Gemeindekasse Mietzuschüsse in einer Gesamthöhe von 180 Reichsmark gezahlt, und 29 Personen erhielten Unterstützungszahlungen zwischen acht und 15 Reichsmark. Aus ihren Berufsbezeichnungen wird ersichtlich, wen die Wirtschaftskrise in Eppelheim am schwersten traf: 15 waren Tagelöhner, sechs Maurer, zwei Schlosser und je einer Former, Zimmermann, Küfer, Glasmacher, Asphalteur und Hilfsarbeiter.
In der Frage, wie die Notlage der Eppelheimer Arbeitslosen zu mildern sei, entwickelten die im Gemeinderat vertretenen Parteien am Jahresende 1930 ganz unterschiedliche Vorschläge: Von kommunistischer Seite wurde gefordert, den Ausgesteuerten aus Gemeindemitteln Unterstützungszahlungen in Höhe der zuletzt bezogenen Arbeitslosengelder zukommen zu lassen; außerdem sollten ihnen Wassergeld und Gebäudesteuern erlassen werden. Deutlich bescheidener und damit den finanziellen Ressourcen der Gemeinde zuträglicher war der Vorschlag der SPD, allen Eppelheimer Arbeitslosen eine einmalige Weihnachtsbeihilfe zu zahlen. Das Zentrum schließlich wollte ein Arbeitsbeschaffungsprogramm aufsetzen: Durch eine Kapitalaufnahme der Gemeinde zur Verbesserung der gemeindlichen Infrastruktur sollte wenigstens ein Teil der Arbeitslosen zeitweilig in Lohn und Brot gesetzt werden können. Der Gemeinderat folgte am 15. Dezember 1930 dem sozialdemokratischen Antrag und ermöglichte die Auszahlung einer Einmalbeihilfe (zehn Reichsmark für Ledige, 15 für Verheiratete und ein Zuschlag von zwei Reichsmark für jedes Kind), die durch eine Erhöhung der Bürgersteuer gegenfinanziert wurde. Die „Notstandsarbeiten“ wurden gleich im neuen Jahr in Angriff genommen:

Ausbau der Eppelheimer Abwassergrube im Rahmen der „Notstandsarbeiten“ 1931/32 (aus: Geschichte entdecken – Eppelheim).

Der Gemeinderat nahm 40.000 Reichsmark für die Erweiterung der gemeindeeigenen Abwassergrube auf, und schon im Februar 1931 begannen die Aushubarbeiten, zu denen vom Gemeinderat nach Bedürftigkeit ausgewählte Arbeitslose herangezogen wurden.
Zu einer spürbaren Entlastung der Situation führte dies nicht, da im Laufe des Jahres 1931 die Arbeitslosigkeit, unter anderem durch Entlassungen bei der Reichsbahn, bei der zahlreiche Eppelheimer in Lohn und Brot standen, weiter stieg. Auch schlug die Krise jetzt zu den Gewerbetreibenden durch: Einer der im Ort ansässigen Friseure zum Beispiel suchte am Jahresende ebenfalls bei der Gemeinde um Unterstützung nach. Durch die „außergewöhnlichen Krisenverhältnisse“, unter denen sein Geschäft „besonders zu leiden“ hatte, war er mit Mietzahlungen in Rückstand geraten und gekündigt worden. Neue Geschäftsräume hatte er zwar in Aussicht, aber kein Geld, um die Miete zu bezahlen. Deshalb bat er den Gemeinderat, diese Kosten bis auf Weiteres zu übernehmen; er „werde nichts unversucht lassen, meine Lage zu verbessern, um dann wieder selbst meine Verpflichtungen erfüllen zu können“. Ein 59-jähriger Tünchermeister, gebürtiger Eppelheimer und dort auch als Träger mehrerer Ehrenämter bekannt, dagegen betrachtete seine Situation offensichtlich als ausweglos: Er nahm sich gemeinsam mit seiner 52-jährigen Frau Anfang November 1931 „durch Öffnen des Gashahns“ das Leben; die regionale Presse berichtete darüber unter der Schlagzeile „Doppelselbstmord aus wirtschaftlicher Not“.
Die Versuche, die Not einzudämmen, rissen auch im Jahr 1931 nicht ab und konzentrierten sich unter anderem in der „Badischen Notgemeinschaft“, die durch landesweite Sammlungen Bedürftigen helfen wollte und zur Gründung lokaler Ableger aufrief. Auch eine „Nothilfe der Gemeinde Eppelheim“ trat in Existenz und rief vor Ort zu Geld- und Sachspenden auf, die auch von vielen Seiten flossen, in der Summe aber nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein waren. Als die „Badische Notgemeinschaft“ am Jahresanfang 1932 ein Förderprogramm für die ärmsten Gemeinden des Landes aufsetzte, meldete Jäger für Eppelheim besonderen Bedarf an. Auf die Ankündigung einer Lieferung von 550 Kilogramm Lebensmitteln reagierte er mit einem Dankschreiben, in dem er zugleich um weitere Unterstützung bat und die Lage der Gemeinde in ganz dunklen Farben zeichnete: Es fehle in Eppelheim „nicht nur an Nahrungsmitteln, sondern auch ganz hauptsächlich an Kleidern und Schuhen. Viele unserer in Fürsorge Stehenden sind schon zwei, drei oder vier Jahre arbeitslos und vom Bezug der Erwerbslosen- und Krisenunterstützung ausgesteuert. Sie sind ab diesem Zeitpunkt in Fürsorge der Gemeinde gekommen. Die ihnen gewährte Arbeitslosen- oder Krisenunterstützung war in ihrer Höhe nicht so bemessen, daß sie zur Anschaffung der erforderlichen Kleidungsstücke und Schuhe reichte. Noch weniger konnte eine Anschaffung mit der von uns zur Auszahlung kommenden Wohlfahrtsunterstützung vorgenommen werden. Durch diese Verhältnisse sind heute sämtliche Kleidungsstücke und Schuhe der seit Jahren in unserer Fürsorge stehenden Familien völlig aufgebraucht. Der Zustand befindet sich heute in einem solchen Grade, daß er nicht mehr als menschenwürdig angesehen werden kann“. Jäger führte als Beispiele Familien an „mit vier Personen, die nur über ein Bett“ verfügen, und unterstrich nochmals die Sonderstellung Eppelheims: „In keiner umliegenden Gemeinde ist die Not so groß wie in der unsrigen“.
Um in der großen Not die einzelnen Fälle gerecht beurteilen zu können, setzte der Gemeinderat zur eigenen Entlastung einen Fürsorgeausschuss zur Prüfung der Anträge ein. Dadurch konnte die wachsende Flut der Fälle vielleicht besser bearbeitet werden, aber an dem Kardinalproblem völlig unzureichender Ressourcen änderte sich nichts. Blickt man auf die Anträge, so ist für das Jahr 1932 ein rauerer Ton zu erkennen. Manche Anliegen wurden auf bloßen Verdacht vorgetragen – „wie mir gesagt wurde, soll jeder Nichtunterstützte vom Reich eine Unterstützung von 3 Rm. erhalten, darum bitte ich den Bürgermeister von Eppelheim um Aufnahme meines Auftrags“ –, und gelegentlich ließen abschlägig beschiedene Antragsteller ihrem Unmut freien Lauf, weil sie die Vergabekriterien, etwa den generellen Ausschluss Lediger ohne eigenen Hausstand, nicht akzeptierten: „Warum habe ich meinen 1. Antrag abgelehnt bekommen???? Weil mein Bruder Unterstützung bekommt?? Ja. Von meinem Bruder kann ich nicht leben“. Für jegliche Großzügigkeit fehlten dem Fürsorgeausschuss und dem Gemeinderat die materiellen Voraussetzungen, und Besserung war nicht in Sicht, auch wenn die Klagen über die viel zu hohen Fürsorgelasten der Kommunen 1932 zu einem reichs- und landespolitischen Dauerthema wurden.

Bitte eines Arbeitslosen um Geld zur Besohlung seiner Schuhe mit dem Angebot, Arbeit bei der Gemeinde zu verrichten, Juli 1932 (Stadtarchiv Eppelheim).

Während man in Berlin und in Karlsruhe über Lösungen debattierte, waren die Eppelheimer Gemeindefinanzen dem Ruin nahe. Weder vermochte der Gemeinderat 1932 einen ausgeglichenen Haushalt aufzustellen, noch war man in der Lage, die Forderungen verschiedener Banken zu bedienen – die Gemeindeschulden beliefen sich auf etwa eine Viertelmillion Reichsmark. Als ultima ratio verwies Bürgermeister Jäger im Oktober 1932 im Gemeinderat darauf, dass man die „Finanzgeschäfte der Gemeinde unter Zwangsverwaltung“ stellen lassen müsse. Die Verärgerung, die hieraus sprach, war nur zu verständlich, da die Gemeinde inzwischen ihre Notstandsarbeiten hatte einstellen müssen. Hierfür standen zwar unterdessen Fördergelder aus Reichsmitteln zur Verfügung, die man in Eppelheim jedoch nicht in Anspruch nehmen konnte, da die Gemeinde nicht in der Lage war, den geforderten Eigenanteil zu erbringen.
Auch für den Winter 1932/33 versprachen nur wieder Notgemeinschaftsaktionen Linderung der Probleme. Da die Sammlungen vor Ort erneut nicht ausreichten, wandte sich Jäger ein weiteres Mal an die „Badische Notgemeinschaft“ mit einem Hilferuf, in dem er Eppelheim als eine „der ärmsten Gemeinden des Badischen Landes“ schilderte und Einblick in die desolate Lage im Rathaus gab: „Unser Gemeindeetat ist mit 94 000 RM unausgeglichen; alle möglichen Steuerquellen wie Biersteuer, Getränkesteuer und die Bürgersteuer in sechsfachem Landessatz sind erfaßt. Wir können gar keinen Weg zum Ausgleich des Fehlbetrags finden, auch vom Bezirksamt und Ministerium können uns solche hierfür nicht gezeigt werden. In Anbetracht dieser Tatsache befindet sich unsere Gemeinde in den größten finanziellen und wirtschaftlichen Sorgen.“ Auf die Bitte, die „Not der bedrängten deutschen Volksgenossen“ zu lindern, „sei es durch Gewährung von Nahrungsmitteln oder Kleidungsstücken“, reagierte die „Notgemeinschaft“ mit der Lieferung von 800 Zentnern Briketts und jeweils einem Doppelzentner Brotmehl und Maisgries, die noch vor Weihnachten 1932 in Eppelheim eintrafen.
Bis ins neue Jahr zog sich die Lieferung von Kinderschuhen hin: Die Gemeinde hatte in einer Liste 188 Namen und Schuhgrößen von Kindern angeführt, die keine passenden wintertauglichen Schuhe besaßen. Geliefert wurden schließlich 95 Paar Rindslederstiefel, die in einer Hockenheimer Fabrik auf Kosten der „Notgemeinschaft“ gefertigt worden waren. Die Eigenbeteiligung der Gemeinde in Höhe von 146 Reichsmark ermöglichte ein „Nothilfekonzert“ als gemeinsame Benefizaktion der Eppelheimer Gesangvereine und der Feuerwehrkapelle in der Turnhalle am 19. März 1933. Dies blieb für lange Zeit die letzte überparteiliche – der sozialistische Arbeitergesangverein war ebenso beteiligt wie die bürgerlichen Sänger der Eintracht und der Germania – Solidaritätsaktion in der Gemeinde, denn bereits eine Woche zuvor hatte in Eppelheim die nationalsozialistische Machtübernahme damit begonnen, dass Bürgermeister Jäger vom Bezirksamt die „Ausübung der Ortspolizei“ untersagt worden war. Dies war vor Ort der erste Schritt auf dem Weg in eine Diktatur, die sich auf die von ihr zu schaffende „Volksgemeinschaft“ zwar viel zugutehielt, Solidarität aber nur nach politischen, rassistischen und manchen anderen Ausschlusskriterien zuließ.

(Frank Engehausen)