Wahrheit oder schon Weisheit? Ein anderer Zugang zu einer Abiturlektüre

Das Nationaltheater Mannheim hatte hoch gegriffen: Eigentlich ging es für die Schülerinnen und Schüler nur um die Vorbereitung der Prüfung zur allgemeinen Hochschulreife. Hier aber wurde sogar eine Schule der Weisheit angeboten: In der Inszenierung der Bühnenfassung von Hermann Hesses Kult-Roman „Der Steppenwolf“ am 20. Januar 2022 hieß es nicht nur für Harry Haller, Hesses Alter Ego, sondern auch für die „Kursstufler“: „Magisches Theater – nur für Verrückte – Eintritt kostet den Verstand“.


Eigentlich ist es Hesses eigene Verzweiflung an der bürgerlichen Gesellschaft, die er in seinem Roman schildert. Oder genauer gesagt; die Gespaltenheit des modernen Menschen und dessen Ringen nach Lebenssinn, die sich – dem faustischen Dualismus entsprechend – in dem Dualismus Mensch-Wolf, geistig-moralisch versus triebhaft-wild, äußert. Im Mittelpunkt steht dabei die Entwicklung des Intellektuellen Harry Hallers, der auf Hermine trifft und mit ihrer Lebenslust seinem Leben zumindest zeitweise einen anderen Inhalt gibt als nur schwere Gedanken und Bücher. Durch sie und mit der Unterstützung der Prostituierten Maria, ihres Musiker-Freundes Pablo und seinem magischen Theater scheint er einen Weg zu finden, sich mit dem Leben und sich selbst zu versöhnen: den Humor. Zwischen Traum und Realität lernt er im magischen Theater nicht nur eine neue Sinnlichkeit, sondern auch ihm bisher verborgen gebliebene Facetten seiner Persönlichkeit kennen.
Inszeniert wurde die Handlung als „Egotrip“ ins eigene Hirn – so spielten alle vier Akteure Persönlichkeitsfacetten und Hirngespinste Harry Hallers, die in ständigem Konflikt einen innerpsychischen Entwicklungs- bzw. Individuationsprozess darstellten. Ein immens großes Gehirn diente hier als Bühnenbild, in dessen unterschiedlichen Arealen sich die vier Schauspieler tummelten. So wurde das Schauspiel-Quartett als einerseits liebende, andererseits leidende, aber auch singende, kletternde, tanzende, grinsende oder auch brüllende Ganglien Teil dieser Gehirnmasse.
Nicht grundlos blieb an einigen Stellen der Aufführung den Schülerinnen und Schülern schier der Mund offenstehen – aus Faszination und Verwirrung zugleich. Die Abiturientinnen und Abiturienten bemängelten nämlich, dass denjenigen, die den Hesse-Roman nicht kennen, einiges zugemutet wurde. Außerdem kamen wichtige Lehrmeister und geistige Führer Hallers, wie die „Unsterblichen“, nicht einmal vor. Auch sei der Protagonist auf eine vermeintliche schizophrene Störung reduziert worden.
Demgegenüber gefiel den Kursstufenschülerinnen und -schülern neben der schauspielerischen und gesanglichen Leistung, die durch die modernen Sound-Effekte bewirkte Klangkulisse bzw. inszenatorische Kraft, die in Verbindung mit den Gesangseinlagen nahezu „abgespaced“ wirkte. Aber auch die direkte Ansprache an das Publikum, mit witzhaften Floskeln über die Wege nach dem Abitur oder die Parodie eines „Paukers“, der im Befehlston nach einer Zusammenfassung der Kapitel fragte und ein Aufsatzthema nach dem anderen Richtung Publikum brüllte, entzückte die Abiturientinnen und Abiturienten. Dies machte die Inszenierung zu einer guten Abiturvorbereitung.
Nichtsdestotrotz heißt es im Steppenwolf, dass „aller höhere Humor (…) damit an(fängt), daß man die eigene Person nicht mehr ernst nimmt“. Genauso wenig sollte das Stück mit all seinen „Macken“ ernst zu nehmen sein. Viel wichtiger ist die Botschaft, die sowohl Roman als auch Bühnenfassung mitzuteilen vermochten: Der Mensch besteht nicht nur aus zwei, sondern aus mehreren Seelenteilen. Damit gilt es den inneren Wolf und den Menschen auszusöhnen.
Beim anschließenden Austausch in einem Café wurde zumindest deutlich, dass die Vorstellung vielleicht nicht schon Weisheit, wohl aber ihre Vorstufe, die Erkenntnis der Wahrheit, bei den Schülerinnen und Schülern erreicht hatte.

Mahan Hashemi
für den Leistungskurs Deutsch (Kröger)