„Das Flüchtlingsproblem wächst immer mehr zu einer Katastrophe heran“: Eppelheim und seine Neubürger 1946/47

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verloren die Deutschen rasch die Bereitschaft zurückzublicken, und aus heutiger Perspektive mag es erscheinen, als hätten sie leichthin versucht, die Erinnerung an die nationalsozialistische Herrschaft abzuschütteln. Sicherlich spielte die Verdrängung als Selbstschutz eine wichtige Rolle, aber es ließen auch die Gegenwartsnöte wenig Raum für Vergangenheitsbewältigung. Dies zeigt sich deutlich auch beim Blättern in den Eppelheimer Gemeindeakten der ersten Nachkriegsjahre, die hier vor Ort wie andernorts vor allem durch das „Flüchtlingsproblem“ geprägt waren. Der teilweise sehr scharfe Ton, der in den einschlägigen Akten lautbar wird, passt nicht gut in das verbreitete Bild einer solidarischen Nachkriegsgesellschaft, wird aber erklärlich, wenn man sich die Dimension des Zuzugs vor Augen führt: Zwischen Juni 1945 und November 1946 kamen annähernd 800 Flüchtlinge und Vertriebene in die Gemeinde, die bei Kriegsende 4.000 Einwohner gezählt hatte. Rechnete man diese Zahlen auf das Jubiläumsjahr 2020 um, so hieße dies, dass die Stadt binnen anderthalb Jahren den Zuzug von 3.000 verarmten Flüchtlingen zu verkraften hätte.

Die ersten Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten trafen Anfang Juni 1945 in Eppelheim ein. In den folgenden Wochen und Monaten kamen immer wieder einzelne Flüchtlinge und Flüchtlingsfamilien; am Jahresende 1945 waren es 50 Personen. Die Zahl stieg seit dem Jahresanfang 1946 rapide an: Ende Januar waren es bereits 91 und im April 154, von denen die meisten aus Ungarn, Schlesien, Westpreußen, der Tschechoslowakei und Ostpreußen stammten. Nach der Festlegung von Aufnahmekontingenten für die einzelnen Gemeinden kamen die Flüchtlinge überwiegend nicht mehr als „Einzelgänger“, sondern in Sammeltransporten aus den Übergangslagern, die vielerorts eingerichtet worden waren – in Nordbaden etwa in Sinsheim und in dem ehemaligen Konzentrationslager Kislau bei Bruchsal. Am 8. Mai 1946 zum Beispiel kamen 27 Personen, allesamt aus Serbien, in der Gemeinde an, und im November 1946 schließlich war das Eppelheimer Kontingent mit 796 sogar um eine Person übererfüllt. Die Herkunft der Flüchtlinge hatte sich gegenüber dem April nun vom Osten in den Südosten verlagert: Die weitaus größte Gruppe stellten mit 293 Personen die Sudetendeutschen. Nach Geschlecht und Generationen unterteilt zählte man 293 Männer, 294 Frauen und 209 Kinder bis 14 Jahren.

Der Massenzuzug von Flüchtlingen seit April 1946 führte zu einer akuten Krise, da ihre Unterbringung nur unter allergrößten Schwierigkeiten zu bewerkstelligen war. Bürgermeister Andreas Jäger beraumte für den 11. Mai eine Sondersitzung des Gemeinderats und der Wohnungskommission an, zu der auch die beiden Pfarrer, je zwei evangelische und katholische Krankenschwestern sowie der ortsansässige praktische Arzt hinzugezogen wurden, um über die Unterbringung der bereits zugewiesenen und der noch zu erwartenden Flüchtlinge zu beraten. Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Jakob Ruppert, empfahl eine Boykottstrategie und wollte dem Landrat darlegen, dass Eppelheim als eine „Notgemeinde von der weiteren Aufnahme von Flüchtlingen ausgenommen“ werden müsse, während der Sozialdemokrat Jäger Hilfe von außen für aussichtslos hielt. Es sei Sache der Gemeinde und werde es bleiben, „mit dem Flüchtlingsproblem fertig zu werden“. Man einigte sich schließlich darauf, zwei Kommissionen zu bilden: eine „beratende“, der der Bürgermeister, die beiden Pfarrer, der Arzt und je ein Vertreter der Parteien angehören sollten, und eine „im Außendienst tätige“, in der die Mitglieder der bisherigen Wohnungskommission durch die Krankenschwestern und wiederum je einen Vertreter der Parteien ergänzt werden sollten.

Übersicht der in Eppelheim aufgenommenen Flüchtlinge vor Beginn der Massenzuweisungen vom 26. April 1946 (Stadtarchiv Eppelheim)

Bei einer zweiten Sitzung vier Tage später wurde über die Arbeitsweise der Tätigkeitskommission beraten und festgelegt, dass zwei Gemeindebedienstete von Haus zu Haus gehen und mit Fragebogen die Familienkopfzahl und die Anzahl und Größe der verfügbaren Räume erfassen sollten; die Tätigkeitskommission hatte dann zu prüfen, „ob und inwieweit Räume beschlagnahmt werden können und diese Beschlagnahme nach einer persönlichen Augenscheinnahme auszusprechen“. Für unzweifelhafte Fälle und zur Beschleunigung des Verfahrens wurde der Bürgermeister ermächtigt, die Beschlagnahme durchzuführen. Sich auszumalen, welche praktischen Probleme sich bei diesem Verfahren ergaben, bedarf es keiner großen Phantasie, und insbesondere den Mitgliedern der Tätigkeitskommission dürfte ihre Arbeit schwergefallen sein, ließ sich der Eindruck, sie beraubten ihre Nachbarn des Wohnraums, doch wohl kaum verwischen. Was genau geschah, ist unklar; jedenfalls stellte die Kommission schon nach wenigen Wochen „in Anbetracht der Schwierigkeiten ihre Mithilfe“ ein, wie Jäger Ende August 1946 dem Landrat mitteilte. Er versuche in Zusammenarbeit mit dem Gemeinderat „das Äußerste, um die Flüchtlinge in Wohnungen unterzubringen. Dies sei jedoch unter Berücksichtigung aller nur erdenklichen Möglichkeiten insolange vollkommen ausgeschlossen, als nicht Baumaterial für Um- bezw. Einbauwohnungen zur Verfügung gestellt“ werden könne. So seien weiterhin 170 Flüchtlinge in „Massenquartieren“ untergebracht, die man unter anderem in den Tanzsälen der Gastwirtschaften eingerichtet habe.

Einblicke in die Wohnungsnot in den ersten Nachkriegsjahren erlauben einige in den Gemeindeakten überlieferte Schreiben einer Fürsorgerin des Gesundheitsamtes Heidelberg, die regelmäßig in Eppelheim Inspektionen vornahm und den Bürgermeister auf besonders prekäre Fälle aufmerksam machte. Hierzu zählte eine vierköpfige Familie, die in der Christophstraße 19 „einen kammerartigen Dachraum von ca 6 qm. Wohnfläche“ bewohnte. Dort könnten nur „die nötigsten Gebrauchsgegenstände gestellt werden, und dies sind zwei Betten, ein Tischgestell und ein Notofen“. Die ganze Familie sei gesundheitlich beeinträchtigt, vor allem aber der fünf Monate alte Säugling leide „an deutlichen Anzeichen von Rachitis und hat öfter Ernährungsstörungen, die nur auf die ungünstigen Wohnverhältnisse zurück zu führen sind“. Auch die Situation in den Sammelunterkünften monierte die Fürsorgerin mehrfach, etwa die Unterbringung einer sechsköpfigen Familie im Gemeinschaftsraum des Gasthauses zur Krone. Ihr stehe dort nur „eine kleine Wohnecke zur Verfügung, die räumlich keineswegs ausreicht. Die Zustände in dem Gemeinschaftsraum sind unhaltbar. Es ist ausserdem ein junges Ehepaar mit einem Kinde und ein altes Ehepaar untergebracht. Die jüngeren Eheleute werden demnächst ein zweites Kind bekommen. Das Zusammenleben mehrerer Familien in einem Raum ist anstössig und sittenwidrig“. Beide skizzierten Fälle stammen nicht aus der akuten Krisenphase im Sommer 1946, sondern aus dem Jahr 1948, und selbst 1950 gab es noch Wohnungsverhältnisse, die nicht anders als elend bezeichnet werden können: zum Beispiel die Unterbringung eines kriegsversehrten Flüchtlings mit Ehefrau und zwei Kindern in einem zwölf Quadratmeter kleinen ehemaligen Unterstellraum des Spritzenhauses mit Rohverputz und Zementboden, der kein Tageslicht hatte und nur durch eine Kochplatte beheizt werden konnte.

Mitteilung über die Zulassung des Flüchtlings Dr. Martin Kreutzer als Hausarzt in Eppelheim vom 11. Oktober 1946 (Stadtarchiv Eppelheim)

Verständlicherweise sah man auf Seiten der Alteppelheimerinnen und Alteppelheimer nicht nur die Not der Neuankömmlinge, sondern auch – und vielfach vielleicht sogar in erster Linie – die Widrigkeiten, die sich durch den Massenzuzug für die Alteingesessenen ergaben. Selbst Bürgermeister Jäger, für den die Integration der Flüchtlinge die politische Hauptaufgabe der ersten Nachkriegsjahre war, scheint zumindest zeitweilig Ressentiments gegen sie gehabt zu haben. Solche lassen sich jedenfalls unschwer aus den Stimmungsberichten herauslesen, die er regelmäßig über den Landrat den amerikanischen Besatzungsbehörden zukommen ließ. Im Bericht vom Juli 1946 beklagte er noch in sachlichem Ton, dass die Unterbringung der Ostflüchtlinge „große Schwierigkeiten“ mache, ihre Versorgung mit Speisekartoffeln „mangelhaft“ sei und die Zubereitung der Mahlzeiten für sie „fast unmöglich durch das Fehlen von Öfen und Brennmaterial“. Einen Monat später berichtete Jäger dann von „Schwierigkeiten“ bei der „Eingliederung der Ostflüchtlinge in den Arbeitsprozeß, da unter denselben sich eine große Anzahl von Arbeitsunlustigen befindet. Auch glauben viele der Ostflüchtlinge, daß die Gemeinde für ihre Ausgaben aufkommen müsse“. Im Septemberbericht schließlich wurde der Ton noch einmal schärfer: „Das Flüchtlingsproblem wächst immer mehr zu einer Katastrophe heran, teils durch die Wohnungsnot, teils durch die Arbeitsunwilligkeit der Ostflüchtlinge. Trotzdem sich bei den hiesigen Ostflüchtlingen eine große Anzahl von Landarbeitern befindet, ist kaum noch einer von denselben in der Landwirtschaft tätig“.

In der Tat war die berufliche Integration der Flüchtlinge schwierig, da für die meisten, die mit nur wenig oder gar keinem Hab und Gut nach Eppelheim gekommen waren, zunächst nur die Übernahme unselbständiger Arbeit, für die die Gelegenheiten noch rar gesät waren, in Frage kam. Immerhin verbesserte sich die ärztliche Versorgung vor Ort, als ein Flüchtling am Jahresende 1946 eine Praxis in Eppelheim eröffnete, und im Mai 1948 konnte die Gemeinde dem Landrat berichten, dass inzwischen sieben „Flüchtlingsbetriebe“ ansässig seien: ein Betrieb für Stanzartikel, eine Schuhmacherei, eine Spenglerei, ein Tapeziergeschäft, eine Most- und Weinkellerei, eine Schneiderei und eine Reparaturwerkstatt für Strümpfe. Für eine größere Zahl von Flüchtlingen blieb die Lage aber noch längere Zeit prekär: Eine in Zusammenhang mit einer Spendenaktion dem Landratsamt übermittelte Liste vom Frühjahr 1948 nannte zwölf Flüchtlingsfamilien als „besonders bedürftig“; es handelte sich dabei um ältere Ehepaare und um Frauen, die mit drei oder vier Kindern, aber ohne Ehemann nach Eppelheim gekommen waren. Eheschließungen zwischen Alt- und Neubürgern beziehungsweise –bürgerinnen hatte es bis zum Jahresende 1947 schon in recht stattlicher Zahl gegeben: 19 „Flüchtlingsmänner“ hatten Eppelheimerinnen, darunter drei Witwen, geheiratet und drei „Flüchtlingsfrauen“ einheimische Männer.

In den Gemeindeakten spiegelt sich vorwiegend der Blick der Alteingesessenen auf die Neuankömmlinge wider. Wie die Flüchtlinge ihre Anfänge in Eppelheim erlebten, ist dagegen schwer nachzuvollziehen. Einige Anhaltspunkte immerhin bietet die im Jahr 2011 von der Stadt Eppelheim herausgegebene Broschüre „Eppelheimer erinnern sich an den Krieg“, die auch mehrere Beiträge von Flüchtlingen umfasst, die allerdings erst Jahrzehnte nach den Ereignissen verfasst wurden und auch deshalb nicht repräsentativ sein dürften, weil sie von Männern und Frauen stammen, die als Kinder nach Eppelheim kamen, denen – so ist zu vermuten – die Integration leichter fiel als ihren Eltern oder Großeltern. Dies deutet in ihren Erinnerungen auch Angela Scheftschik an: Für die „alten Leute“, ihre aus dem Böhmerwald stammenden Großeltern, sei es „ganz schlimm“ gewesen, da ihr Lebenswerk „ja nun kaputt“ war und sie überdies „Schwierigkeiten mit der Sprache“ hatten. Ihre Mutter habe sich, als sie das ihnen zugedachte erste Quartier in der Turnhalle gesehen habe, zunächst geweigert, vom Lastwagen zu steigen; Bürgermeister Jäger habe ihr gut zureden müssen mit der Notlüge, „dass es nur eine Nacht“ wäre, aus „der dann eineinhalb Jahre“ wurden. Scheftschiks Vater forcierte die Integration ganz durch Arbeit: durch die Anfertigung von Holzschuhen, „die damals – auch bei der hiesigen Bevölkerung – guten Absatz fanden“ – und durch den raschen Bau eines eigenen Hauses.
Während Scheftschik keinerlei Schwierigkeiten mit den Eppelheimer Kindern hatte und sich offensichtlich problemlos in der neuen Heimat zurechtfand, erinnerte sich Franz Strunz auch an Konflikte: „als ich so 15, 16 Jahre alt war, wollte ich ein Fußballspiel beim ASV besuchen. Auf dem Weg zum Fußballplatz stellte sich mir ein Eppelheimer […] in den Weg und sagte: ‚Die Flüchtlinge haben hier nichts zu suchen‘. Ich habe mich umgedreht, bin in die Straßenbahn gestiegen und nach Heidelberg gefahren. Seitdem war ich nicht mehr auf dem Fußballplatz“. Auch die Probleme bei der Suche nach einer ersten Wohnung im November 1946 waren Strunz im Gedächtnis geblieben. Bürgermeister Jäger habe seiner Mutter damals gesagt: „Geht zum Hitler, der soll euch eine Wohnung geben. Das war nicht schön“. Wiederum anders war die erinnerte Wahrnehmung von Elfriede Vobis: Die Integration sei damals „nicht so schwer“ gewesen, „weil wir halt auch Deutsch sprachen, wenn auch manchmal mit Dialekt“. Ihr Vater habe sich intensiv in Vereinen engagiert, „beim Musikverein“ und „bei der Briefmarkenvereinigung“. Vor allem aber seien die Flüchtlinge „nach und nach, vor allem die, die Handwerker waren, in Eppelheim gebraucht worden“.

(Frank Engehausen)